Ein Blick in eine ganz neue Welt: Die Singapurische Gebärdensprache und ich
ERFAHRUNGSBERICHT
Von Anna Sulaiman
Veröffentlicht am 13. April 2024
Dieser Artikel ist auch verfügbar auf: English.
Beim Erlernen der Singapurischen Gebärdensprache fühle ich mich oft wie eine Fremde, die von außen hereinschaut. In meinem Freundeskreis gibt es niemanden, der Gebärdensprache benutzt, daher habe ich aus purer Neugierde begonnen, mich damit zu beschäftigen und wollte Kontakte knüpfen, falls sich die Gelegenheit ergibt.
Jedes Wochenende saß ich vormittags in einem Café und lernte Japanisch, während meine Tochter in der Nähe Ballettunterricht hatte. Das war meine fest eingeplante Zeit, in der ich meiner Liebe zur Sprache nachgehen konnte. Ich schleppte meine Lehrbücher mit mir und verbrachte eine gute Stunde damit, Kaffee zu trinken und mich mit komplexer japanischer Grammatik zu beschäftigen.
In dem Café arbeitete häufig nur eine einzige Person, die ich später als Steve kennenlernen sollte. Ein Schild wies darauf hin, dass Steve gehörlos sei und die Kunden bestellten, indem sie auf die Speisekarte zeigten oder auf dem Tablet schrieben, das er immer griffbereit auf dem Tresen hatte. Zuerst dachte ich nur darüber nach, wie großartig es doch war, ein Geschäft zu sehen, das keinen Verlust in gehörlosen Mitarbeitern sah. Zugegebenermaßen leitete mein Audismus mich auch zu dem Gedanken, wie toll es doch war, dass Steve trotz Hörverlust das Café alleine führen konnte.
Falls der Begriff "Audismus" neu für Sie ist, so wie er es für mich war, möchte ich Ihnen dieses Wort gerne etwas näher erläutern. Humphrey und Alcorn (1995) beschreiben Audismus als "die Vorstellung, dass man aufgrund seiner Fähigkeit zu hören oder sich so zu verhalten wie eine hörende Person, überlegen ist". Diese unbewusste Voreingenommenheit war der Grund warum ich so überrascht war, dass Steve im Café alleine arbeitete. Natürlich konnte er das. Seine Gehörlosigkeit hatte keinen negativen Einfluss auf seine Arbeit. Es war allein meine Ignoranz, die ihn als 'behindert' darin sah.
Mit zunehmenden Interaktionen während meiner wöchentlichen Besuche konnte ich selbst sehen, dass er nicht nur in der Lage war, alleine zu arbeiten, sondern dass er in der Tat sogar hervorragend in seinem Job war; und das auch noch geschäftigen Samstagmorgen. Tatsächlich war ich es, die sich im Laufe der Zeit unzulänglich fühlte.
Ich bin jemand, der gerne Smalltalk mit Fremden führt. In dem multikulturellen und touristischen Singapur bedeutet das, regelmäßig in verschiedenen Sprachen zu sprechen, besonders bei Begegnungen mit älteren Menschen. Ich bin stolz darauf, in der Lage zu sein, einfache Gespräche zu führen und problemlos zwischen Sprachen hin und her zu wechseln. Meine morgendlichen Spaziergänge waren gespickt mit "Zhao!" und "Pagi!", während ich die älteren Stammgäste beim Qigong-Üben grüßte. Wenn ich an der Bushaltestelle vom Regen überrascht wurde, führte ich Gespräche in gebrochenem Mandarin und Malaysisch darüber, wie der Regen das Wäschewaschen erschweren würde.
Und doch stand ich jede Woche im Café und bestellte bei Steve, ohne auch nur die grundlegendsten Kenntnisse in seiner Sprache zu haben. Ich versuchte einfach, mit einem Lächeln und Kopfnicken zu vermitteln, was ich sagen wollte. Dort saß ich jede Woche und lernte Japanisch, mir bewusst, dass ich so viel Mühe darauf verwendete, eine Sprache zu lernen, in der ich fast nie kommunizieren würde. Ein bitterer Nachgeschmack entstand in meinem Mund, weil ich nicht einmal die grundlegendste Gebärdensprache beherrschte, um mit Steve zu kommunizieren. Alles, was ich tun konnte, war, "Danke" zu gebärden. Mein Missfallen über diese Tatsache wuchs zu einem Entschluss, mein eigenes Unwissen zu überwinden. Ich würde mich für Gebärdensprachkurse anmelden, beschloss ich.
Leider traf uns bald darauf Covid-19, und kurz darauf begannen die Lockdowns. Vielleicht hat die Pandemie auch das Geschäft des Cafés beeinflusst, denn es ist umgezogen. Ich hatte keine Möglichkeit, Kontakt zu Steve aufzunehmen. Dankbar jedoch, dass er dieses Bewusstsein und diesen Wunsch in mir geweckt hatte, habe ich trotzdem mit den Kursen begonnen. Denn auch wenn es vielleicht nicht Steve war, mit dem ich kommunizieren würde, erkannte ich, dass sich vor mir die Möglichkeit bot, mit so vielen anderen Menschen in Verbindung zu treten.
Es wird geschätzt, dass es in Singapur etwa 500.000 Menschen mit Hörverlust oder Gehörlosigkeit gibt, was im September 2022 etwa 8,4% der Bevölkerung entspricht.
Mein bester Freund, der schon vor einiger Zeit aus eigenen Gründen Gebärdensprache lernen wollte, beschloss, sich mir anzuschließen. (Ich quietschte vor Freude, als er das sagte, denn einen Sprachlernpartner zu haben, ist ein großer Segen.) Die Suche nach einem Kurs führte uns zu Unterrichtsstunden bei der Organisation, die am zuverlässigsten erschien, der Singapore Association for the Deaf. Online-Unterricht war zu disem Zeitpunk immernoch die einzige verfügbare Option. Wir schafften es, die letzten beiden Plätze im Kurs zu ergattern und begannen eine Reise in eine Welt, die noch unbekannter war, als ich es mir vorgestellt hatte.
Eine Welt, die mir auch nach 3 Jahren des Lernens immer noch weitgehend unbekannt blieb. Ich war eine Außenseiterin, die durch ein sehr kleines Fenster hineinschaute.
Ich bin mit Sprachunterricht vertraut. Ich besuche seit meinem 13. Lebensjahr Sprachkurse. Und doch habe ich mich noch nie so ahnungslos gefühlt. Es lag nicht nur daran, dass ich nicht viel Vorwissen über die Sprache selbst hatte. Es lag daran, dass ich im Grunde nichts über die mit der Sprache verbundene Welt und Kultur wusste.
Sprache ist so eng mit Kultur verbunden. Ich glaube, als Englischsprecherin schätze ich das nicht genug. Englisch, das von so vielen Menschen auf der ganzen Welt gesprochen wird, lässt mich nicht unbedingt an das Wort Kultur denken. Sprachen reicher Kulturen wie Mandarin, Französisch, Arabisch und Japanisch, mit denen ich mich zuvor beschäftigt habe, habe ich schon oft in den Medien gesehen oder gehört.
Sie waren mir weniger fremd als eine Sprache, die den Namen des Landes trug, in dem ich geboren und aufgewachsen bin. Die Singapurische Gebärdensprache und ihre Kultur fehlten vollständig in meinem Radar. Als ich das Wort "Gehörlosenkultur" im Kursmaterial sah, wusste ich nicht, was ich damit anfangen sollte.
"Wir haben unsere eigene lokale Version der Gebärdensprache?" fragte ich mich. Das war nur eine von vielen Fragen, die ich hatte, ein Zeugnis dafür, wie unwissend ich über die Welt der Gehörlosen war und bin. Aber ich sage meinen Schüler*innen immer, dass sie selbst die 'dümmsten' Fragen stellen sollen. Je dümmer sich die Frage anfühlt, desto mehr sollten sie sie aus sich herausbekommen, weil sie ja sicher nicht wollen, dass das 'Dumme' in ihnen bleibt. Also habe ich meinen eigenen Rat befolgt und mir erlaubt, die 'dummen' Fragen zu stellen.
Glücklicherweise waren die Kursmaterialien so gestaltet, dass die Teilnehmer keinerlei Vorwissen mitbringen mussten. Die Lektionen enthielten Informationen über Gebärdensprache und Gehörlosenkultur, die einige meiner Fragen beantworteten, bevor ich den Mut aufbringen musste, sie zu stellen:
Nein, Gebärdensprache ist keine wörtliche Übersetzung von Englisch oder der lokal gesprochenen Sprache.
Ja, die Singapurische Gebärdensprache (SgSL für Singapore Sign Language) hat ihre eigene Grammatik.
Nein, die Singapurische Gebärdensprache besteht nicht nur aus Gesten.
Tatsächlich ist Gebärdensprache nicht eine Sprache. Es gibt viele Gebärdensprachen auf der Welt.
Ich habe auch Dinge erfahren, über die ich vorher nie nachgedacht hatte. Eines davon ist das Konzept eines Gebärdennamens. Gebärdennamen, wie die Namen, mit denen wir geboren werden, werden uns zugewiesen, anstatt dass wir sie wählen. Die Gehörlosencommunity verleiht diesen einzigartigen Namen nicht immer in Bezug auf deinen gegebenen, geschriebenen Namen. Zwei Glorias könnten zum Beispiel völlig unterschiedliche Gebärdennamen haben. Einige Gebärdennamen enthalten Initialen, während andere beschreibende Eigenschaften enthalten, und manchmal sind die Gebärdennamen eine Kombination aus beidem. Wenn zum Beispiel eine Gloria eine große Nase hat, könnte der zugewiesene Gebärdenname die Form eines 'g' haben, wie es beim Buchstabieren mit den Fingern gemacht wird, mit Bewegungen entlang der Nasenbrücke und mimischen Gesten, um die Betonung auf der Nase zu zeigen. Einen Gebärdennamen zu erhalten, ist fast wie ein Einführungsritual. Als ich meinen Gebärdennamen erhielt, fühlte ich, dass mein Fenster in die Welt der Gehörlosen ein kleines Stück größer wurde.
Dennoch, während die Lektionen fortschritten und ich mehr über die Sprache und die Gehörlosenkultur lernte, wurde ich mir schmerzlich bewusst, wie wenig ich wusste.
Es gibt historische Gründe, warum das Erlernen von Singapurischer Gebärdensprache einem Blick von außen ähnelt. Benutzer von Gebärdensprachen haben viele Herausforderungen erlebt, die sie zwangen, ihre Sprachen aufzugeben oder im Geheimen zu verwenden. Im Jahr 1880 verbot der Zweite Internationale Kongress für die Erziehung der Gehörlosen, eine Konferenz gehörloser Pädagogen, sogar die Verwendung von Gebärdensprache in Schulen. Man glaubte, dass 'Oralismus' der Gebärdensprache in der Bildung der Gehörlosen überlegen sei. Eine formelle Entschuldigung für diese Entscheidung wurde erst 2010 veröffentlicht.
Als hörender Mensch werde ich nicht so tun, die Auswirkungen solcher Herausforderungen nachvollziehen zu können oder mich in andere Herausforderungen, denen Benutzer von Gebärdensprache gegenüberstehen, hineinzuversetzen zu können. Aber als Person einer Minderheit kann ich nachempfinden, dass man diese Dinge, die man als wichtigen Teil der eigenen Identität betrachtet, eng am Herzen hält.
Früher richteten sich Gebärdensprachkurse für Hörende in Singapur mehr an Personen, die eine dolmetschende Rolle übernehmen mussten oder Familienmitglieder hatten, mit denen sie kommunizieren wollten. Heutzutage bieten jedoch mindestens drei Organisationen Gebärdensprachkurse für die Öffentlichkeit an. Das Interesse an der Sprache unter Hörenden wächst, und die Gehörlosengemeinschaft bemüht sich zunehmend, sie zu teilen.
Es ist eine aufregende Zeit, Singapurische Gebärdensprache zu lernen. Sich jetzt damit zu beschäftigen bedeutet auch, Zeuge der schnellen Entwicklung einer Sprache zu sein. Ich hatte das Privileg, Kurse bei zwei Organisationen besuchen zu dürfen und auch Teil von Online-Gruppen zu sein. Zuerst fand ich es etwas verwirrend, aber inzwischen genieße ich es, die Verhandlungen zwischen den gehörlosen Singapurern zu beobachten, welche Gebärdenzeichen wirklich Teil von SgSL sind oder Relikte anderer Systeme, wie zum Beispiel Signing Exact English. Mit der Ankündigung der singapurischen Regierung, Verfahren zu auszuprobieren, um Singapurische Gebärdensprache zur fünften offiziellen Landessprache zu machen, kann ich mir nicht ausmalen, wie viel die Sprache noch wachsen wird!
Ich bin voller Hoffnung, dass das Fenster für Lernende wie mich, die einen Blick in die Welt der Singapurischen Gebärdensprache werfen wollen, größer werden wird.
Lektor*innen
Alice Pol, Anthony Burger, Aline Vitaly & Marvin Nauendorff
Vielen Dank an
Singapore Association for the Deaf (SADeaf)
Muhammad Zahin Feroz Khan
Steve
Weitere Informationen (auf Englisch)
Sign Bank offers a comprehensive dictionary of SgSL signs.
Singapore Association for the Deaf offers various resources to learn SgSL.
S'pore Association for the Deaf helps build children's confidence with sign language by Mark Cheong and Kua Chee Siong for The Straits Times.
How One Organization Aids The Deaf in Singapore on The Borgen Project.
Bibliografie
Cole, Max. 2022. "How One Organization Aids the Deaf in Singapore." The Borgen Project. September 18, 2022.
https://borgenproject.org/deaf-in-singapore/.Berke, Jamie. 2023. "Name Signs in the Deaf Community." Very Well Health. Last updated May 4, 2023.
https://www.verywellhealth.com/using-name-signs-for-personal-names-1048725.Rochester Institute of Technology. 2023. "Milan Resolution (1880)." LEAD 306 Leadership in the Deaf Community - InfoGuides. Last updated October 9, 2023. https://infoguides.rit.edu/deafleader/milan.
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Cheong, Mark, and Kua Chee Siong. 2021. "S'pore Association for the Deaf helps build children's confidence with sign language." The Straits Times. Accessed April 12, 2024. https://www.straitstimes.com/multimedia/photos/spore-association-for-the-deaf-helps-build-childrens-confidence-with-little-hands.
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